Papageiensiedlung – die nächsten 100 Jahre
von Ute Scheub
Die „Waldsiedlung Zehlendorf“ im gleichnamigen Bezirk im Berliner Südwesten ist eine Siedlung der sogenannten „Berliner Moderne“ von Bruno Taut und anderen Bauhaus-nahen Architekten. Die zwischen 1926 und 1932 gebaute Siedlung mit U-Bahnstation und Nahversorgungszentrum war und ist eine Ikone und ein Pionierprojekt des ökosozialen Wohnungsbaus. In der Weimarer Republik boten die neuen Wohnungen im Geschosswohnungsbau sowie in den schmalen Reihenhäusern bezahlbaren und attraktiven Wohnraum im Grünen für viele: Die Erstbewohner.innen waren zumeist Angestellte, Gewerkschafter, Handwerker.innen und Künstler.innen mit kleinem Geldbeutel. Durch die kleinteilige Bauweise der Siedlung werden aktiv soziale und ökologische Verbindungen gefördert, die Beziehungen zwischen den Nachbarn ebenso wie die zwischen Mensch und Natur. Der Kiefern- und Birkenbaumbestand wurde in die Planungen mit einbezogen, sodass eine große Nähe von Natur und Architektur bewahrt werden konnte.
Für das bevorstehende 100-jährige Jubiläum der Siedlung plant ein aktiver Teil der Anwohnerschaft, sie für weitere 100 Jahre CO2-neutral zu stellen. Nach dem Motto „Die nächsten 100 Jahre“ soll sie den kommenden Generationen erhalten werden. Die nötigen energetischen Sanierungsmaßnahmen können die Bewohner allerdings nicht allein planen und finanzieren, sie brauchen hierfür Unterstützung von diversen Seiten. Da das Ensemble seit 1995 unter Denkmalschutz steht, ist dies gleichzeitig ein Modellprojekt für die – keineswegs einfache – Vereinbarkeit von Denkmalschutz und Klimaschutz.
Die von einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft erbauten 1.100 Mietwohnungen in der Siedlung wurden im Zuge der „Privatisierungswelle“ vom Senat an internationale Konzerne verkauft. Derzeit werden sie von der Deutsche Wohnen verwaltet. Zudem gibt es etwa 800 private Hauseigentümer.
Ästhetik und Design
Zwischen 1926 und 1931 wurden im Süden Berlins etwa 1.100 Mehrfamilienhäuser und etwa 800 Einfamilienhäuser in mehreren Bauabschnitten in den lichten Kiefern- und Birkenwaldbestand am Rande des Grunewalds gebaut. Um die Baugenehmigung gab es anfänglich erhebliche Auseinandersetzungen. Die neue Siedlung im Bezirk Zehlendorf war konservativen Traditionalisten ein Dorn im Auge. Mit ihren bunten Farben und flachen Pultdächern wichen die Häuser von Althergebrachtem ab. Hinzu kamen soziale Spannungen: In dem Villenvorort wehrten sich die gut betuchten Bürger.innen gegen den Zuzug ärmerer Bevölkerungsschichten. Oberbauleiter Martin Wagner und Architekt Bruno Taut wurden sogar mit Geld- bzw. Gefängnisstrafen bedroht. Erst das Einschreiten des Berliner Magistrats führte zur Baugenehmigung. 1929 erfolgte mit der Eröffnung der U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte die Verkehrsanbindung an das Zentrum Berlins. 1931 wurde die Ladenstraße als Nahversorgungszentrum an beiden Längsseiten des U-Bahnhofs angebaut.
Ein Teil der Siedlung plante der Architekt Bruno Taut allein, einen anderen zusammen mit seinen Berufskollegen Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg. Das Ergebnis war eine zeitlose moderne Architektur, die auf Weltniveau Maßstäbe setzte für kommende Generationen. Der U-Bahnhof Onkel Toms Hütte wurde von Alfred Grenander geplant. Auftraggeber war Berlin.
Ein wichtiges Gestaltungselement von Bruno Taut waren kontrastreiche Farben. Die Verwendung von naturnahen Grün-, Rot-, Gelb- und Blautönen brachte der Siedlung den zuerst spöttisch gemeinten Namen „Papageiensiedlung“ ein. Inzwischen ist von dem Hohn nichts mehr übrig geblieben. Die Bewohner.innen schätzen ihre Wohnungen und Häuser außerordentlich. Architekturinteressierte reisen aus der ganzen Welt an, um sich die Siedlung anzusehen.
Ein weiteres herausragendes Gestaltungselement sind die Proportionen und Rhythmen. Die Reihenhäuser mit ihren kleinen Vorgärten sind nur fünf und sechs Meter breit – ein abwechslungsreiches Panorama für Passanten. Heutige Stadtplaner wie etwa Jan Gehl, der Kopenhagen fahrrad- und fußgängerfreundlich umgebaut hat, propagieren solche Fassaden als exakt dem menschlichen Maß und der menschlichen Wahrnehmungs-Geschwindigkeit entsprechend. Die Fassaden mit ihren dreifarbigen Fensterrahmen sind sehr abwechslungsreich und hinterlassen einen idyllischen Eindruck. Die Straßenführung in der Siedlung ist niemals schnurgerade, überall gibt es Biegungen, sodass keine Monotonie entsteht. Dasselbe gilt für die Anordnung der Gebäudeblöcke, in denen es immer kleine rhythmische Unregelmäßigkeiten gibt. „Architektur ist die Kunst der Proportion“, lautete ein Motto von Bruno Taut.
Im Zentrum der Siedlung befindet sich das Nahversorgungszentrum, die „Ladenstraße“, 1931 kreiert von Otto Rudolf Salvisberg, mit 32 kleinen Geschäften für Einzelhandel, Handwerk und Dienstleistungen. Auftraggeber war Adolf Sommerfeld. Die beiden Ladenzeilen wurden entlang der Gleise der hier oberirdisch verlaufenden und überdachten U-Bahnstation „Onkel Toms Hütte“ errichtet. In diesem Jahr feiert die Ladenstraße ihren neunzigsten Geburtstag. Der Name „Onkel Toms Hütte“ bezieht sich übrigens nicht auf den gleichnamigen Roman von Harriet Beecher Stowe, sondern auf ein ehemaliges Ausflugslokal im nahen Grunewald, das nach seinem Wirt Tom so genannt wurde.
Die Ladenstraße ist unter den Anwohnern sehr beliebt. Auf einem Vorplatz findet donnerstags ein Wochenmarkt mit regionalen Produkten statt, in der wärmeren Saison mit Livemusik. Er ist ein Treffpunkt für die Nachbarschaft aus dem nahen und weiteren Umkreis. Ein Großteil der Ladeninhaber ist in einem Gewerbeverein zusammengeschlossen, dem „Onkel Toms Verein“ (https://onkeltomsladenstrasse.de/).
Die auch bei Touristen sehr beliebte Siedlung kann über die sogenannte „Dahlem Route“ per Fahrrad angesteuert werden (www.tourismus-suedwest.berlin) Sie liegt eingebettet in eine ganze Landschaft der künstlerischen Berliner Moderne. Nicht weit entfernt liegt das Brücke-Museum, das Kunsthaus Dahlem und das Haus am Waldsee.
Ökologische Nachhaltigkeit
Obwohl bereits hundert Jahre alt, entsprechen die Siedlungshäuser immer noch heutigen Wohn- und Lebensansprüchen. Die Häuser und Wohnblöcke sind nahe dem Wald gebaut worden, sie versöhnen Kultur und Natur. Die Kiefern sollten beim Bau größtenteils stehenbleiben, die naturliebenden Architekten wollten das so.
Bruno Taut wollte „Gartenstädte“ errichten und ließ sich dabei vom Gartenarchitekten Leberecht Migge anregen. Dieser propagierte die Selbstversorgung mit Lebensmitteln in Hausgärten. Dies ist in den Gärten der Siedlung bisher jedoch nur eingeschränkt möglich, weil die Flächen sehr klein sind. Aber die Grundidee ist im Hinblick auf Klimaschutz wichtiger denn je und könnte durch geeignete Maßnahmen reaktiviert werden.
Die Siedlung ist ein Regenerationsgebiet für viele Tier- und Pflanzenarten, weil sie fast direkt an einem großen Waldgebiet liegt, dem Grunewald. Hier kommen diverse bedrohte Arten vor, etwa verschiedene Fledermausarten, die unter den Dachabschlüssen der Siedlungshäuser Unterschlupf finden. Laut Naturschutzbund NABU gibt es hier so viele Fledermäuse wie kaum woanders in Berlin. In den kleinen naturnahen Gärten der Siedlung sind auch andere bedrohte Tierarten zu finden, etwa Nashornkäfer, Blaue Holzbienen oder Gelbspanner. Dasselbe gilt für seltene Pflanzenarten. Insofern dient der Erhalt und die ökologische Weiterentwicklung der Siedlung ganz direkt dem Artenschutz und dem Erhalt der Biodiversität.
Soziale Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit
Bruno Taut ließ die Proportionen der Siedlung bewusst so gestalten, dass soziale Nähe entstand und gleichzeitig Abstand und Freiraum. Die Häuser stehen so nah beieinander, dass soziale Kontakte leicht fallen; dennoch bieten sie einen geschützten Rückzugsraum. In der Folge entstand ein starker Nachbarschaftsgeist, der die Siedlung seit fast 100 Jahren prägt. Man kennt sich, man hilft sich, man feiert zusammen seit den 1930er Jahren – unterbrochen nur vom Weltkrieg – nichtkommerzielle Straßenfeste. Verschiedene Generationen leben hier weitestgehend friedlich zusammen.
Die Häuser sind allerdings nur teilweise barrierefrei. Manche Gehbehinderte in den Reihenhäusern haben sich im Erdgeschoss eine Rampe und/oder einen Treppenlift bauen lassen, der sie in andere Etagen transportiert. Dies ist bisher jedoch nur auf privater Ebene erfolgt. In den Mietshäusern im Eigentum der Deutsche Wohnen gibt es solche Lösungen bisher nicht.
Die beiden Zeilen der Ladenstraße aber sind barrierefrei, sodass Rollstuhlfahrer alle Geschäfte ohne Hindernis erreichen können. Zum U-Bahnsteig der Linie U3 führen zusätzlich zu den Treppen eine Rolltreppe an einer Seite und an der anderen ein Aufzug für Personen mit Rollstuhl, Rollator, Kinderwagen oder Fahrrad, den die Berliner Verkehrsbetriebe errichtet haben.
Nachbarschaftliche Aktivitäten
Der 2010 gegründete gemeinnützige „Verein Papageiensiedlung“ ist ein Zusammenschluss von gut 80 Bewohnern, die ihre Siedlung denkmal- und klimagerecht weiterentwickeln wollen. Sie sind sehr gut organisiert und miteinander vernetzt. Ihr Veranstaltungsort, der „Kieztreff“ in der FRISIERKUNST Wilskistraße Ecke Riemeisterstraße
Der Kieztreff bietet ein wechselndes Programm an Veranstaltungen. Mehr Infos dazu finden Sie unter kliq-berlin.de/veranstaltungen/
Klimafreundliche Mobilität
Die Ladenstraße war, wenn man so will, die erste Shopping Mall mit U-Bahn-Anschluss. Als solche ist sie immer noch einmalig in Berlin, vielleicht sogar in ganz Europa. „Ohne Auto einkaufen“ ist die zukunftsträchtige Devise des Einkaufszentrums. Ein Cargo Bike, das kostenlos ausgeliehen werden kann, steht Kunden für Transporte zur Verfügung, buchbar unter www.flotte-berlin.de.
Die Siedlung selbst ist nicht autofrei. Im Gegenteil stört der Anblick und der Lärm der vielen größeren und kleineren Autos die grüne Idylle. Teile der Anwohnerschaft bemühen sich, hier Abhilfe zu schaffen.
Klimafreundliche Papageiensiedlung
Der Verein Papageiensiedlung hat 2019 das Projekt „Klimafreundliche Papageiensiedlung“ (KliP) ins Leben gerufen. Das Wort klimafreundlich meint die Erdatmosphäre und das soziale Klima in der Nachbarschaft. Die beteiligten Ehrenamtlichen haben sich zum Ziel gesetzt, die Siedlung bis zu ihrem hundertjährigen Geburtstag klimaneutral machen zu wollen.
Es bildeten sich selbstorganisierten „Fokusgruppen“ von der „Solargruppe“, die auf den Flachdächern möglichst viele Solaranlagen initiiert hat, der „Mobilitätsgruppe“, die zukunftsfähige Alternativen zum klimaschädlichen Individualverkehr, etwa Lastenrädern oder das Sharing von E-Autos anregt, der „Gruppe Grün“, die sich Gärten, Straßenbäumen, Artenvielfalt und klimafreundlichem Kompostieren mit Pflanzenkohle und Terra-Preta-Technik widmet, bis zur „Rübchengruppe“, die sich vom nahegelegenen Biobauerhof wöchtenlich Gemüsekisten in eine Garage liefern lässt.
Aus dem KliP-Projekt entstand dann von 2021 bis 2023 das „Quartierskonzept-Projekt“, ein KfW-gefördertes Stadtplanungsprojekt mit dem Ergebniss, dass wir für unser Quartier rund um den U Bahnhof Onkel Tom aus ausgearbeitetes energetisches Sanierungskonzept vorliegen haben.
Aus KliP wurde kliQ
Als 2023 klar wurde, für das eigentlich geplante Folgeprojekt wurden vom Bund die Mittel gestrichen, entschieden wir uns, die Umsetzung der erarbeiteten Ziele selbst in die Hand zu nehmen und gründeten im April 2024 die kliQ-Berlin eG Quartiersgenossenschaft. So entstehen nun aus Nachbarschaftsgruppen ehrenamtlich weiterarbeitende Arbeitsgruppen verschiedener Geschäftsbereiche vom kliQ-Kieztreff bis kliQ-energie. Die Themen sind die gleichen, aber mit der Genossenschaft als Unternehmen ergeben sich neue Möglichkeiten, Dinge auch wirklich umzusetzen. Mehr Infos dazu finden sie unter kliq-berlin.de